Interview mit Prof. Dr. Miriam Kehne von der Universit?t Paderborn
Einschneidende bildungspolitische Reform: Ab August 2026 hat jedes Grundschulkind in Deutschland einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung. Ziel des von der Bundesregierung beschlossenen Rechtsanspruchs ist die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie ein Beitrag zur individuellen F?rderung und Chancengleichheit aller Kinder. Doch was bedeutet das für die Bewegungswelt der Heranwachsenden? Prof. Dr. Miriam Kehne spricht über die Folgen dieser Entscheidungen und fordert: ?Wir brauchen mehr Bewegung in der Ganztagsschule!“ Die Sportwissenschaftlerin leitet den Bereich Kindheits- und Jugendforschung im Sport, der im Department Sport & Gesundheit der Universit?t Paderborn angesiedelt ist.
Frau Kehne, wie stehen 365足彩投注_365体育投注@ der Reform erst einmal grunds?tzlich gegenüber?
Kehne: Das Recht, das jedes Grundschulkind ab August 2026 einen Anspruch auf eine ganzt?gige Betreuung hat, sehe ich pers?nlich als eine Chance – denn es entspricht der gesellschaftlichen Entwicklung. Ich bin selbst Mutter zweier Kinder, mein Mann und ich sind beide berufst?tig. Das hei?t, ich wei? sehr wohl auch aus eigener Erfahrung, dass diese Entscheidung viel zur besseren Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben beitragen kann. Auch soll Kindern aus verschiedenen sozialen Milieus so eine Chancengleichheit er?ffnet werden, das finde ich sehr gut.
365足彩投注_365体育投注@ besch?ftigten sich tagt?glich mit der Bewegungswelt von Kindern und Jugendlichen. Was kann sich für die Heranwachsenden ?ndern, die ab 2026 in die Ganztagsbetreuung gehen?
Kehne: Die Bewegungswelt hat sich für viele Heranwachsende bereits ver?ndert und diese Entwicklung wird massiv weiter voranschreiten. Natürlich gibt es auch jetzt schon Kinder, genauer gesagt jedes zweite Kind, das den ganzen Tag in der Schule verbringt. Die anderen 50 Prozent jedoch verbringen die Nachmittage au?erhalb der Schule im Idealfall mit verschiedenen Freizeitaktivit?ten im organisierten oder informellen Rahmen: auf der Wiese spielen, Fahrradfahren, in den Sportverein gehen und natürlich auch andere Hobbies ausüben wie ein Instrument spielen. All diese Freizeitaktivit?ten im Grundschulalter k?nnten – in der Form, wie wir sie bisher hatten – verdr?ngt werden. Was die Bewegung angeht, haben wir sowieso ein Problem: Repr?sentative Daten zeigen, dass sich 75 Prozent der Kinder bereits im Grundschulalter weniger als eine Stunde am Tag bewegen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Nur eines von vier Kindern bewegt sich genug! Eine Stunde Bewegung ist übrigens das, was die Weltgesundheitsorganisation t?glich empfiehlt, um einen gesunden Lebensstil zu unterstützen. Wir kennen die hohe Relevanz von Sport und Bewegung für die physische Gesundheit mittlerweile sehr gut und wissen, dass k?rperliche Aktivit?t die Entwicklung von Kindern ganzheitlich f?rdern kann.
Es ist die Rede von Chancengleichheit für die Kinder. Ist die denn gegeben, sobald alle Kinder in der Ganztagsbetreuung sind?
Kehne: Aus meiner Sicht besteht an dieser Stelle noch ein ganz gro?er Aufholbedarf: Die Politik muss das System Ganztag, das sie jetzt geschaffen hat, so ausgestalten, dass wirklich eine Chancengleichheit bestehen kann und die Heranwachsenden tats?chlich davon profitieren. Dafür müssen die Rahmenbedingungen so geschaffen werden, dass das Angebot im Ganztag eine entsprechende Qualit?t aufweist.
Was k?nnte das konkret sein?
Kehne: Im Bewegungsbereich hei?t das: Die Kinder haben in der Regel einen natürlichen Bewegungsdrang, aber die Voraussetzungen, die sie mitbringen, sind sehr unterschiedlich. Das betrifft sowohl den motorischen als auch den psychosozialen Status der Kinder. Um die Potenziale von Bewegung, Spiel und Sport zu nutzen und allen Kindern die Ausbildung eines aktiven Lebensstils zu erm?glichen, ben?tigen wir mehr Personal, das zudem entsprechend qualifiziert sein muss. Au?erdem fehlen manchmal entsprechende R?umlichkeiten für Bewegung und die Nutzung ist vor allem im Ganztagsbetrieb oftmals nur eingeschr?nkt m?glich. Beispielsweise wenn es regnet und der Schulhof nicht genutzt werden kann. Welche R?umlichkeiten stehen den Kindern dann zur Verfügung? Weiter halte ich es für absolut unerl?sslich, dass die au?erschulischen Bildungsinstitutionen – wie im Bewegungsbereich die Sportvereine – aktiv in die Ausgestaltung des schulischen Ganztags eingebunden werden. Schlie?lich sollen die Kinder auch in der Ganztagsschule weiterhin ihren Hobbys nachgehen k?nnen beziehungsweise einen Zugang zu den au?erschulischen Bildungspartnern erhalten.
365足彩投注_365体育投注@ sind Sprecherin des Clusters ?Ganztag“ im ?Forschungsverbund Kinder- und Jugendsport NRW“ (FKJ). Der FKJ hat gerade ein Positionspapier zum Thema Ganztagsbetreuung herausgegeben (Download siehe unten). Wieso ist das n?tig?
Kehne: Wir halten es für unerl?sslich, t?gliche Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivit?ten parallel zum schulischen Ganztagsausbau mitzudenken und aktiv in den Schulalltag einzubinden. Das bedeutet, nicht einfach nur das Betreuungsangebot zu erweitern, sondern wirklich auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Es geht hier aus unserer Sicht um die individuelle motorische, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung der Kinder.
Was fordern 365足彩投注_365体育投注@ und Ihre Kolleg*innen?
Kehne: Wir fordern: Berücksichtigt die Bewegungswünsche der Kinder! Gestaltet bewegte Schulr?ume! Nutzt Bewegungsangebote im Ganztag! Schafft ein bewegtes Schul- und Ganztagskonzept! Entwickelt bewegte Bildungslandschaften im kommunalen Raum! F?rdert die Qualifikation für Bewegung, Spiel und Sport! Und: Sichert die Qualit?t von bewegten Ganztagsschulen.
Ist das denn aus Ihrer Sicht nur eine Frage von politischen Rahmenbedingungen?
Kehne: Nicht nur, aber sie sind essentiell. Sport und Bewegung haben einen sehr wichtigen Stellenwert für die gesunde Entwicklung und lebenslange Gesundheit – da spielen neben der Politik als ?Rahmenbedingungsgestalter‘ unter anderem auch die Eltern eine wesentliche Rolle. Politiker*innen und Eltern sind also ganz zentrale Schnittstellen. Die Politik muss die Bedingungen erm?glichen, festlegen und verankern. Das ist absolut richtungsweisend, weil sonst alle anderen Akteur*innen, also Eltern, Trainer*innen, Lehrer*innen und andere Beteiligte wie freiwillige Sporthelfer*innen und viele mehr, gehindert werden. Die Eltern sind diejenigen, die ihre Kinder pr?gen – gerade im Bewegungskontext. Aber: Die Umsetzung, den Transfer, den k?nnen wir nur alle gemeinsam gestalten.
Welche Rolle spielt die Wissenschaft an der Stelle?
Wir wissen oft nicht so genau, wo die Stolpersteine in der Praxis liegen, was die Akteur*innen ben?tigen. Wenn wir in einen Dialog treten und zusammenarbeiten, dann k?nnen wir mit unserer Arbeit, der Forschung, genau dort ansetzen, wo Erkenntnisse gebraucht werden. So k?nnen wir fundiertes Wissen weitergeben. Hier setzt beispielsweise das von uns gegründete Bewegungs- Spiel- und Sportlabor besslab an. Es braucht in diesem Netzwerk aber viele Partner*innen: Politik, den organisierten Sport, die Universit?ten und Hochschulen, die Eltern, das System Schule, in dem übrigens h?chst multiprofessionelle Teams im Bereich Sport und Bewegung arbeiten. Wir schaffen das nur gemeinsam.
Wie sieht das System Ganztag in Ihrer Idealvorstellung aus?
Kehne (lacht): Davon sind wir leider noch entfernt, aber: In der idealen Welt müssten wir den Alltag an Grundschulen komplett anders rhythmisieren. Das bedeutet, wir würden nicht mehr unterscheiden zwischen einem kognitiven Vormittagsbereich (Deutsch, Mathe, Englisch, Sachkunde und so weiter) und einer Betreuungssituation am Nachmittag. Aus meiner Sicht w?re es sinnvoll, die Bewegung und die kognitiven Aspekte im Ganztag zu durchmischen. Wir wissen schlie?lich durch zahlreiche Studien, dass Bewegung für das kognitive Lernen eine hohe Relevanz besitzt: Auswendiglernen funktioniert besser, wenn man sich bewegt, also durch den Raum l?uft. Nach dem Spielen drau?en k?nnen sich Kinder besser auf ihre Hausaufgaben konzentrieren. Wir k?nnten Bewegung auch lernbegleitend sehen. Kinder entwickeln sich durch Bewegung, lernen ihre Umwelt kennen. Bewegung bringt viele Vorteile mit sich, und das ist etwas, das wir uns mehr zunutze machen sollten – und das ist aus meiner Perspektive leider immer noch nicht vollends in der Gesellschaft und auch Politik angekommen.
Weiterführende Informationen
- Positionspapier des Forschungsverbundes Kinder- und Jugendsport NRW (PDF)
- Webseite Forschungsverbund Kinder- und Jugendsport NRW
Das Interview führte Gesa Seidel (Stabsstelle Presse, Kommunikation und Marketing).