In­ter­view zum Jahrestag der Gründung NR­Ws am 23. Au­gust: ?Nordrhein-West­falen ist ein Produkt der Nach­kriegszeit und des Kal­ten Krieges“

Vor 72 Jahren fing alles an: Am 23. August 1946 wurde das Land Nordrhein-Westfalen gegründet. Florian Staffel, Zeithistoriker an der Universit?t Paderborn, erkl?rt, wie NRW entstand, warum Düsseldorf Landeshauptstadt wurde und wie es CDU-Politiker Karl Arnold gelang, eine erste Landesregierung aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Kommunisten zu bilden.

Herr Staffel, in Kürze j?hrt sich die Gründung Nordrhein-Westfalens zum 72. Mal. Wie entstand nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Bundesland?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland in vier alliierte Besatzungszonen aufgeteilt. Die ehemalige preu?ische Provinz Westfalen und der Norden des Rheinlandes, einst Teil der preu?ischen Rheinprovinz, wurden der britischen Besatzungszone zugeordnet. Im Juni 1946 beschloss das britische ?Overseas Reconstruction Committee“, ein Ministerrat für au?enpolitische Fragen, die Gründung Nordrhein-Westfalens als Zusammenschluss dieser beiden Provinzen – die sogenannte ?operation marriage“. Nach weiteren Detailverhandlungen wurde am 23. August 1946 durch die ?Milit?rverordnung Nr. 46“ das Land NRW gegründet. Seine heutige Auspr?gung erlangte es schlie?lich durch die Eingliederung des Landes Lippe im Januar 1947.

Was bezweckte die britische Milit?rregierung damit, zwei preu?ische Provinzen und das Land Lippe zu einem Bundesland zusammenzulegen?

Im Grunde kann die Landesgründung als ein Produkt der Nachkriegskonstellation und des beginnenden Kalten Krieges interpretiert werden. Die britischen Verlautbarungen benannten vor allem die unbestreitbar verbesserten Verwaltungs-  und Wirtschaftsm?glichkeiten, bei denen die Versorgung des Ruhrgebiets durch agrarisch gepr?gte Gebiete wie das Münsterland und Ostwestfalen eine bedeutende Rolle spielte.

Die Archivakten zur Entscheidungsfindung zeigen aber weitere Beweggründe. Den Ausgangspunkt bildete die Kontrolle der Ruhrindustrie als ehemalige ?Waffenschmiede des Reiches“. 365足彩投注_365体育投注@ lag in der britischen Zone und damit im direkten britischen Entscheidungs- und Einflussgebiet, war jedoch ein Zankapfel zwischen den Alliierten. Man stand vor einem Dilemma: Einerseits wurde das Industriepotential des Ruhrgebiets zum Wiederaufbau Europas ben?tigt, andererseits sollte der Schutz vor einem wiedererstarkten Deutschland garantiert werden. Neben der Internationalisierung des Ruhrgebiets, die unter anderem auch eine sowjetische Beteiligung an der milit?rischen Kontrolle beinhaltete, wurden die Integration in einen deutschen Staat, die insbesondere franz?sischen Abtrennungsforderungen und die Sozialisierung der Unternehmen diskutiert. Seit dem Frühjahr 1946 wurde die Abwehr des sowjetischen Einflusses zu einer deutschlandpolitischen Maxime der Briten. Da mit der zugesagten wirtschaftlichen Unterstützung durch die USA – Stichwort Bizone – zudem die Rücksichtnahme auf die franz?sischen Forderungen gemindert wurde, verwarf man den bisherigen Plan der Internationalisierung des Ruhrgebiets. Die Alternative lautete: Bildung eines neuen Landes und Sozialisierung, das hei?t ?berführung der Unternehmen in Landeseigentum.

Mit dem neuen Land sollten die Kontrolle über die Ruhrindustrie vorl?ufig festlegt, die Zustimmung der Bev?lkerung für die westlichen Alliierten und insbesondere Briten gewonnen sowie materieller Wohlstand geschaffen werden. Darüber hinaus sollte durch die W?hlerstimmen der l?ndlich-konservativen Gebiete die kommunistische Pr?gung des Ruhrgebiets bei Landtagswahlen ausgeglichen werden. In diesem Sinne hatte NRW als ein gefestigtes f?derales Land auch die Aufgabe, den Einfluss einer gegebenenfalls sowjetischen Zentralgewalt in Berlin – ein Gespenst der Zeit – einzud?mmen.

Die Sozialisierung der Unternehmen blieb letztlich nach diversen, insbesondere US-amerikanischen Protesten aus. Stattdessen setzte sich mit dem ?Ruhrstatut“ und der ?Europ?ischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ die gewandelte Internationalisierung des Ruhrgebiets durch.

Das bisherige, über Jahrhunderte selbstst?ndige Land Lippe wurde 1947 von den Briten vor die Wahl gestellt, Teil Niedersachsens oder NRWs zu werden. Weshalb entschied sich die lippische Regierung für Letzteres?

Lippische Politiker und Beamte, allen voran Landespr?sident Heinrich Drake, verhandelten mit Vertretern Niedersachsens und NRWs die Konditionen einer jeweiligen Eingliederung, um dann ihre Empfehlungen an die britischen Stellen auszusprechen, die die endgültige Entscheidungsbefugnis hatten. In Verhandlungen mit dem ersten NRW-Ministerpr?sidenten Rudolf Amelunxen einigte man sich auf die sogenannte ?Lippische Punktuation“. In diesen 16 Punkten sicherte Amelunxen unter anderem den Sitz der Bezirksregierung in Detmold, den Erhalt und die F?rderung sozialer und kultureller Einrichtungen, diverse Selbstverwaltungsrechte sowie die Verfügungsgewalt über das lippische Landesverm?gen zu. Da die nieders?chsischen Verhandlungsteilnehmer gerade die beiden letzten Punkte so nicht zugestehen wollten und konnten – man hatte sie den zuvor bereits vereinigten L?ndern auch nicht gestattet – entschied sich Lippe für NRW. Daneben spielten auch die engen sozialen und wirtschaftlichen Bindungen zum Regierungsbezirk Minden, der schon ein Teil NRWs war, eine bedeutende Rolle.

Warum wurde Düsseldorf Landeshauptstadt?

Düsseldorf war bereits im 19. Jahrhundert Sitz der Provinziallandtage und der provinziellen Selbstverwaltung. Das spielte aber eine eher untergeordnete Rolle. Entscheidend war, dass die Stadt aufgrund der kampflosen ?bergabe weniger zerst?rt war als andere und als ?Schreibtisch des Ruhrgebiets“ galt. Hier war ein Zentrum der wirtschaftlichen Verwaltung mit dem Sitz diverser Unternehmen sowie Verb?nden der Schwerindustrie. Vor dem Hintergrund der Sozialisierungsabsichten und britischen Kontrollbemühungen erscheint die Wahl daher auch pragmatisch, zumal sich in Düsseldorf bereits Teile der britischen Zivilverwaltung befanden.

Im Gegensatz zu anderen Bundesl?ndern baute NRW nicht auf einem identit?tsstiftenden und gebietsgleichen Vorg?ngerstaat auf. Gab es dennoch Dinge, die das n?rdliche Rheinland und Westfalen verbanden und an die 1946 angeknüpft werden konnte?

Es gab verschiedene Anknüpfungspunkte, doch die Gründung des neuen Landes erhielt angesichts der existenziellen N?te der ?Zusammenbruchsgesellschaft“, in der Wohnraum- und Nahrungsmittelmangel herrschten, zun?chst wenig Aufmerksamkeit von der Bev?lkerung. Ein Anknüpfungspunkt war das gemeinsame Erbe der preu?ischen Westprovinzen. Hier gab es bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Angleichung der Verwaltungsstandards eine Ann?herung. Zum anderen knüpften politische Entscheidungstr?ger an die westliche ?chtung Preu?ens an und unterstützten damit die Formulierung eines neuen, abgrenzenden Wir-Bildes. Dieses wurde insbesondere von Amelunxen, aber auch von Konrad Adenauer propagiert. Adenauer war bereits in der Weimarer Republik an ersten Gedankenspielen zur Aufl?sung des Freistaats Preu?en und der Zusammenführung der Provinzen Rheinland und Westfalen beteiligt.

Eine weitere wesentliche Klammer der Regionen n?rdliches Rheinland und Westfalen bildete das Ruhrgebiet. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich der Begriff des ?rheinisch-westf?lischen Industriegebiets“, das so in der Au?en- und Innenwahrnehmung zu einem entscheidenden Merkmal der Region wurde – obwohl die fl?chenm??ige Mehrheit des Landes weiterhin landwirtschaftlich gepr?gt war.

Neben den Gemeinsamkeiten bildete sich insbesondere mit dem wachsenden Nationalismus im 19. Jahrhundert aber auch ein je eigenes, durchaus abgrenzendes Raumbewusstsein heraus. Das spiegelt sich – teilweise bis heute – in klischeehaften Mentalit?tszuschreibungen, wie dem ?schweigsamen und st?rrischen Westfalen“ oder dem ?lebenslustigen Rheinl?nder“, wider. Machtpolitisch gesehen spielten diese Rivalit?ten auch bei den Diskussionen der politischen Führungskr?fte w?hrend der Gründungsphase NRWs eine Rolle. So befürchteten gerade westf?lische Politiker und Regierungsbeamte, hinter die Rheinl?nder zurückzufallen.

Die an NRW angrenzenden Staaten Frankreich, Niederlande und Belgien hatten w?hrend des Zweiten Weltkriegs unter einer brutalen deutschen Besatzung gelitten. Wie standen sie zur Gründung eines potentiell wirtschaftlich und politisch starken deutschen Bundeslandes in unmittelbarer N?he?

Die deutschlandpolitische Hauptintention der drei L?nder war die Sicherheit vor Deutschland. Gleichzeitig formulierten sie jeweils Annexions- und Abtrennungsforderungen, wobei Frankreichs Forderungen nach der Abtrennung der linksrheinischen Gebiete und der Bildung eines neutralen ?Ruhr-Territoriums“ die weitreichendsten waren. Daher betrachteten die drei Staaten die britische Neugründung NRW durchaus kritisch, zumal sie die Kontrolle der Ruhrindustrie zun?chst r?umlich zementierte. Au?erdem kritisierten Franzosen, Belgier und Niederl?nder die damit verbundenen Sozialisierungspl?ne, die einer deutschen Regierung umfassenden Einfluss auf die auch kriegsrelevante Kohle- und Stahlindustrie erm?glicht h?tten. Mit dem Ruhrstatut begann jedoch dann die Vertiefung der europ?ischen Kooperation und der sich beschleunigende Wiederaufbau.

Die erst im Juni 1945 gegründete CDU wurde bei der ersten NRW-Landtagswahl im April 1947 auf Anhieb st?rkste Partei. Mit den in der Region etablierten Sozialdemokraten, dem katholischen Zentrum und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) lie? sie starke Konkurrenten hinter sich. Wie war dieser Erfolg m?glich?

Die CDU nahm das Ergebnis der Landtagswahl gar nicht als einen so gro?en Erfolg wahr. Bei den vorangegangenen Kommunalwahlen hatte sie noch deutlich bessere Ergebnisse erzielt und rief daher sogar in manchen Reden die absolute Mehrheit als Wahlziel aus. Das Ergebnis von ca. 38 Prozent der Stimmen hatte mehrere Gründe: Der gewichtigste ist wohl, dass die CDU in NRW sehr gut an das bestehende katholische Milieu anknüpfen konnte. Zum einen bediente man über den sp?teren Ministerpr?sidenten Karl Arnold die katholische Arbeiterbewegung und Vertreter sozial-christlicher Positionen, insbesondere in St?dten. Zum anderen sympathisierte ein Gro?teil der Geistlichen mit der neugegründeten Partei und sorgte durch seinen Einfluss für hohe CDU-Wahlerfolge auf dem Land. Darüber hinaus erzielten die Christdemokraten auch in den protestantischen Regionen NRWs gute Ergebnisse, die auf bereits bestehenden konfessionellen politischen Kooperationen und auf dem Mangel an konservativen Konkurrenzparteien beruhten. Bis zu einem gewissen Grad war die CDU also auch ein überkonfessionelles bürgerliches Sammelbecken, das zudem durch die Pr?senz und die Positionen Adenauers gestützt wurde.

Der erste CDU-Ministerpr?sident Karl Arnold bildete nach der Wahl eine Regierung aus CDU, Zentrum, SPD und KPD. Gerade Kommunisten und Sozialdemokraten hatten sich in der Weimarer Republik und selbst ab 1933 im Exil teils heftig bek?mpft. Wie gelang es Arnold, die vier Parteien zusammenzubringen?

Arnold als ehemaliger christlicher Gewerkschafter pflegte einen eher konsensorientierten Politikstil. Er war Vertreter des linken CDU-Flügels, der den ?christlichen Sozialismus“ befürwortete. So hatte er gute Beziehungen zum pragmatischen Flügel der SPD um Walter Menzel. Die Koalition wurde insbesondere auch durch den DGB-Vorsitzenden Hans B?ckler gestützt. Die KPD suchte zudem den politischen Zusammenschluss mit der SPD, ?hnlich wie die Zentrumspartei mit der CDU.

Die neue Regierung versuchte die dr?ngenden Fragen der Zeit wie die Nahrungsmittelversorgung, die Demontage und den Wohnungsbau, aber auch die Sozialisierung anzugehen. In den Grundtendenzen herrschte zun?chst gro?e Einigkeit, sodass man auch geschlossen gegenüber der britischen Besatzungsmacht auftreten konnte. Die Koalition br?ckelte jedoch aus verschiedenen Gründen. Zum einen schieden die KPD-Minister letztlich aufgrund ideologischer Diskrepanzen aus. Zum anderen belastete der Konflikt zwischen Adenauer und Arnold die Handlungsf?higkeit. Zur Sozialisierungsfrage und dem ?christlichen Sozialismus“ vertraten sie grundlegend unterschiedliche Positionen. Adenauer bevorzugte eine bürgerliche Koalition mit der FDP, um so auch weitere protestantische W?hlerschichten zu erschlie?en, und kritisierte daher die gro?e Koalition bei jeder Gelegenheit. 

Zum Schluss ein hochschulpolitischer Rückblick: Ab den 1960er Jahren wurden in NRW unter CDU- und SPD-Ministerpr?sidenten zehn neue Universit?ten gegründet – eine davon in Paderborn. Aus Ihrer Sicht eine Erfolgsgeschichte?

Definitiv. Uns begleiten zwar die damaligen Beweggründe wie der Fachkr?ftemangel, internationale technologische Konkurrenz, die ?berlastung der Universit?ten sowie die Angleichung von Lebenslagen und -chancen in teilweise neuem Gewand bis heute. Aber mit dem Aufbau einer der vielf?ltigsten und gr??ten europ?ischen Hochschullandschaften sehe ich NRW auf einem guten Weg. Nicht zuletzt auch im Wandel der Eigen- und Fremdwahrnehmung von einem Kohle- und Stahlland zu einer innovativen und zukunftstr?chtigen Region, die ihre Geschichte kennt.

Das Interview führte Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation.

Foto (Universit?t Paderborn, Simon Ratmann): Zeithistoriker Florian Staffel forscht und lehrt an der Universit?t Paderborn unter anderem zur Geschichte der Briten in Westfalen.
Foto (Universit?t Paderborn, Simon Ratmann): Zeithistoriker Florian Staffel forscht und lehrt an der Universit?t Paderborn unter anderem zur Geschichte der Briten in Westfalen.

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